Das Geheimnis der Frau mit dem Kindergesicht

Interview mit David Frankfurter über eine Kultstatuette aus dem frühchristlichen Ägypten

Figürchen wie dieses wurden in der Zeit ungefähr vom 4. bis 7. Jahrhundert in Ägypten hergestellt. Von ihren Fundorten in christlichen Heiligtümern, Gräbern oder den Ruinen von Wohnungen haben sie ihren Weg genommen in Museumssammlungen überall auf der Welt. Bis heute geben sie Altertums- und Religionswissenschaftlern Rätsel auf, denn in antiken Texten werden sie nicht erwähnt. Sie tragen auch keine Inschrift, keinen „Namen“. Auf der Rückseite unserer Figur ist ein Palmzweig eingeritzt, was mittlerweile als Werkstattzeichen gedeutet wird. Denn: „These figurines were mass-produced, and we do not know that they were invested with a personal agency“, sagt der Religionswissenschaftler David Frankfurter von der Universität Boston, einer der besten Kenner dieser Tonfiguren.

David Frankfurter, Boston University

„These may have represented sometimes a particular spirit in the house, a particular protective being, or they might have represented the person who brought her or bought her at a shrine and laid her near a holy place at a shrine.“

Klein, aber oft berührt

Die Figur (Fotografie Antje Voigt) ist 14 cm hoch, also ungefähr so groß wie heute ein Mobiltelefon. Die Frau ist einerseits bekleidet, gehüllt in ein Umhängetuch oder einen Mantel, das machen die Wülste des Halsausschnittes und an der Basis deutlich. Andererseits ist das Schamdreieck mit den Haaren als Perlschnur eingeritzt: Die oder der Schöpfer(in) der Statuette „weiß“ um die unter der Kleidung verborgene Vagina und zeigt sie wie mit einem Röntgenblick. Kopf und Oberkörper sind deutlich größer als der schmale Unterleib, das Gesicht mit Kulleraugen und offenem Mund von einem Haarkranz wie von einem Glorienschein umgeben. Besonders viele Frauenfigürchen wurden im Menas-Heiligtum nahe Alexandria gefunden, einer wichtigen Pilgerstätte im frühchristlichen Ägypten: Entweder wurden die Figürchen im Heiligtum aufgestellt, so wie man heute in der Kirche eine Kerze anzündet, um die göttliche Allmacht um ein Kind zu bitten oder um Erleichterung bei Wechseljahrs-Beschwerden. Oder solch eine Statuette wurde von einer Pilgerreise als Andenken mit nach Hause genommen, um die mit der Reise verbundene Andacht und Erleuchtung im Alltag fortwirken zu lassen.

Hier das Interview mit David Frankfurter

Zoom-Interview vom 04. Februar 2020

Das Bode-Museum bezeichnet unsere kleine Frauenfigur als „Votivfigur oder Fruchtbarkeitsamulett“: Die Statuette stellte eine sichtbare, handgreifliche Verbindung her zur göttlichen Allmacht. David Frankfurter spricht von der „materiality of devotion“. Und wofür betete eine Frau in der Antike? Tatsächlich sehr oft um ein Kind, sagt David Frankfurter: „I tend to think that the fecundity-interpretation is in some ways a safe base-line for interpretation, because we know that in traditional premodern societies the ability to have children and carry them to term and let them grow up is an issue of prestige, of self-worth. And in the miracle stories, even in comparative studies, it brings woman to great distress if they are infertile and brings them to great length to appeal to different shrines, to appeal to different saints for help in this area.“

Was, wenn man nicht nur gucken, sondern auch anfassen dürfte?

Über das Schamdreieck streichen

Die Statuette ist innen hohl, was bedeutet, dass sie im „Zwei-Form-Verfahren“ hergestellt wurde. Dafür werden zwei korrespondierende Formen mit Ton ausgegossen und diese Tonschalen nach dem Aushärten zusammengesetzt. Die Figur war ursprünglich bemalt. Die beiden Löcher links und rechts des Gesichts finden sich auch bei anderen Statuetten: Vielleicht wurden sie genutzt, um eine Kette oder Schnur anzubringen und die Figur um den Hals zu tragen oder in der Wohnung aufzuhängen. Es wäre aber auch denkbar, dass die Statuetten standardmäßig mit Schmuck verziert wurden. Könnte man das nicht erneut ausprobieren? Um auf den Größenvergleich mit dem Mobiltelefon zurückzukommen: Wurde die kleine Tonfigur auch so viel angefasst wie ein heutiges Mobiltelefon?
Nur Kopien des Objektes würden Museumsbesuchern weitere sinnliche Entdeckungen erlauben. David Frankfurter hält es für eine gute Idee, Abgüsse des Tonfigürchens zu fertigen. Dann könnten wir an ihren knopfartigen Brüsten zwirbeln oder ihr beschwörend über den kleinen Bauchnabel und das darunter eingeritzte Schamdreieck streichen.
„There is a lot to touch: the eyes, the hair-style, the breasts. If you held it in your hand, your thumb would go to various features and protrusions. I think it would be a very important earning experience for people who are looking at something like this to experience it manually, through touch.“

Literaturempfehlungen

Frankfurter, David, Female Figurines in Early Christian Egypt: Reconstructing Lost Practices and Meanings, Material Religion, 11:2 (2015)
Richter, Tonio Sebastian, Magie, in: Fluck, Cäcilia u. Helmecke, Gisela (Hg.), Abrahams Erben am Nil, Berlin 2015, S. 190-197
Rumscheid, Frank, Tönerne Fürbitterinnen aus dem frühchristlichen Ägypten, in: Bonner Jahrbücher 219, 2019, S. 213–256
Frank Rumscheid widerspricht der Interpretation als Fruchtbarkeits-Figur: 1. seien in Heiligtümern gar keine Statuetten gefunden worden, die Figürchen aus Abu Minas stammten aus der Stadt und nicht aus dem Heiligtum. 2. gebe es keinen klaren Hinweis, dass die Figürchen vor allem von Frauen erworben wurden oder dass es in erster Linie um Fruchtbarkeit ging.