Apotropäisch und kontemplativ: Über ein Reliquiarkreuz

Bei dem hier gezeigten Objekt handelt es sich um ein Fragment eines bronzenen Reliquiarkreuzes aus dem 8./12. Jahrhundert, das nach dem Erwerb 1898 in Smyrna durch Wilhelm Bode in die byzantinische Sammlung des Bode Museums einging. Die Ösen an den oberen und unteren Strahlen des Kreuzes, die normalerweise dazu dienen, Reliquiarkreuze zu verschließen sind zum Zeitpunkt dieser Aufnahme abgebrochen oder abgenutzt, die hintere Hälfte des Kreuzes nicht mehr vorhanden. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt auch die hier abgebildete vordere Hälfte als verschollen, es bleibt also nur noch die Photographie und der historische Inventareintrag. Um ein Gefühl für die physischen Dimensionen und die Funktionsweise eines solchen Objektes wiederzuerlangen wurde für diesen Beitrag eine Replik aus Ton hergestellt. Um der Ironie, dass auch diese Replik nun nur rein virtuell erfahrbar sein soll entgegenzuwirken wird sie hier Alltagsgegenständen ähnlichen Formats gegenübergestellt.
Doch abgesehen davon, dass diese Gegenstände uns ein Gefühl für die Größe dieses in seinem Gebrauch uns als Teil einer modernen Gesellschaft scheinbar so fremden Reliquiarkreuzes vermitteln, was haben sie sonst gemein? Es sind Gegenstände, über die wir kaum nachdenken weil sie uns so allgegenwärtig sind. Die Erinnerung an die Wohnung einer Kettenrauchenden Großmutter etwa mit ihren vom Rauch vergilbten Türen, ausgelöst von Zigarettengeruch – oder auch der Ekel einer ganz anderen Person die das Rauchen vor Jahren mühevoll aufgegeben hat. Der Schutz, den eine FFP2-Maske vor Ansteckung von Krankheiten bietet und die Anonymisierung und Distanz die gleichzeitig mit diesem Verhüllen der fazialen Mimik einhergeht und der Kaugummigeruch der unter dieser Maske der überdeutlichen Wahrnehmung des eigenen Mundgeruchs Abhilfe schaffen soll.
Es sind Artikel aus Massenproduktion, zu denen jede/r seine oder ihre ganz eigenen, privaten Erinnerungen hat, deren Design, Handhabung und Wirkmacht jedoch gleichermaßen unser kollektives Gedächtnis prägt wie es die historischen seriell gefertigten Reliquiarkreuze vermochten.
Der unten beigefügte Essay stellt eine Betrachtung über die apotropäische und kontemplative Wirkmacht des bronzenen Reliquiarkreuzes dar, das den Mittelpunkt dieses Beitrags bildet. Die ihm gegenübergestellten zeitgenössischen Objekte sollen als Einladung verstanden werden, über den Eigenen Umgang mit diesen Objekten und deren sensuelle und rituelle Geltung nachzudenken.


Volltext Essay

Bildquellen:

Bildquelle Bild 1: SBM-digital http://www.smb-digital.de/eMuseumPlus?
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, letzter Zugriff am 07.12.2020.

Bildquelle Bilder 2-9: Aufnahmen der Autorin

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