„Heiligkeit hautnah“

Abb. 1: „Du hast ein Stück Kuchen, Du hast ein Stück Land – aber hast Du ein Stück Heiligkeit?“

Sogenannte „Menasampullen“ wurden zwischen dem 5.- 7. Jahrhundert CE zu Tausenden am Heiligtum des Menas in Abu Mina in Ägypten hergestellt und von dort durch Pilger verbreitet. Diese Exportschlager waren nicht nur Reisesouvenirs, sondern ein kleines Stück Heiligkeit, ein tragbarer Segen, den man mit sich nach Hause nehmen konnte. Doch was machte sie „heilig“? Und wie konnte man diese Erhabenheit selber spüren, riechen oder sehen?

Abb. 2: „Pilgerfläschchen mit dem Hl. Menas 
zwischen zwei Kamelen“, Byzantinische Sammlung  (SMB), Inv.-Nr.: 3396

Wir stehen in unserem kleinen virtuellen Museum der Kleinobjekte nun vor einem handtellergroßen, rötlichen Tonfläschchen. Der flache Bauch trägt eine aufgeprägtes Bild des Heiligen in römischer Offiziersuniform. Über seinen Schultern kann man nur noch vereinzelte Buchstaben einer Aufschrift erkennen, die wahrscheinlich mal „Εὐλογία τοῦ ἁγίου Μηνᾶ“ („Segen des heiligen Menas“) oder eine Variation dessen verkündete. Die zusammengekauerten Gestalten, die ihm ihre Köpfe zu Füße legen, sollen Kamele darstellen. Diese Tiere spielen in Menas´ Viten eine wichtige Rolle, vor allem als Träger seines Sarges, die durch ihr störrisches Verharren an einem Punkt der Reise den gottgewählten Ort der Grablege des Märtyrers signalisierten.1 Dieser Ort, ob nun damals von Kamelen markiert oder nicht, liegt etwa 45 km südwestlich von Alexandria. Um das dort gelegene unterirdische Hypogaeum, in dem seine Begleiter ihn Ende des 3. Jahrhunderts bestatteten, erwuchs im Laufe der nächsten Jahrhunderte die Pilgerstadt, die heute als Abu Mina bekannt ist. Der Heilkult des Soldatenheiligen ließ den Ort zur größten christlichen Pilgerstätte Ägyptens der Spätantike werden.2

Abb. 3: Grundriss des Kirchenkomplex in Abu Mina nach dem späten 5. Jahrhundert
(a: Baptisterium, b: Gruftkirche, c: Narthex, d: Basilika)

Eine notwendige Grundlage für die Heiligkeit der Fläschchen war der Glaube, dass die segnenden und heilenden Kräfte einer heiligen Person durch Nähe und Kontakt zu deren sterblichen Überresten auf andere Gegenstände übergehen kann.3 Dies gilt auch für die Erde, die ein Grab umgibt. Die Ampullen in Abu Mina wurden aus lokalem Ton gefertigt, sie erhielten ihr erstes Fünkchen Segen also bereits aus den verwendeten Rohstoffen. Die Kostbarkeit beruht hier nicht auf materiellem Wert, wie etwa bei Gold oder Elfenbein, sondern auf der spirituellen Bedeutung, die dieser Erde von den Gläubigen zugesprochen wird. Die Oberfläche des gebrannten Tons ist üblicherweise rau, vor allem an dem aufgeprägtem Rahmen unseres Objekts kann man Unebenheiten erkennen. Bei näherer Betrachtung könnte man an den separat angefügten Henkeln4 vielleicht sogar noch Fingerabdrücke des Fabrikanten entdecken. Die erhabeneren Stellen des Bildmotivs erscheinen heutzutage allerdings ein wenig glatter als der Rest, ganz so, als hätten Jahre des vorsichtigen Berührens, Streichelns und Küssens die Gesichtszüge blank gerieben. 

Das Bild des Hl. Menas ist auch schon unser nächster Halt auf der Suche nach der Heiligkeit des Fläschchens, das seinen Namen trägt. Die Darstellung mit zwei Kamelen und in Orantenhaltung, also als Betender mit ausgestreckten Armen, ist auf den Ampullen sehr häufig.5 Durch Sehen und Fühlen tritt man mit seinem Abbild in Kontakt, das nicht nur als Dekoration dient, sondern in sich bereits eine schützende Wirkung tragen soll. Zu dem Glauben an die Übertragbarkeit von Segen durch physische Berührung tritt hier also die Überzeugung hinzu, dass schon das Abbild einer heiligen Person ausreicht, um einem Objekt einen geweihten Status zu verleihen.6 Vielleicht glaubte man auch, die schützende Wirkung durch körperliche Nähe und Berührung verstärken zu können. Die Ampulle wäre aufgrund der handlichen Größe relativ leicht zu transportieren gewesen, etwa, um sie auf Handelsreisen mitzuführen.

Da dies nun eine Flasche ist und nicht einfach nur eine der vielen Tonfigürchen, die man auch in Abu Mina kaufen konnte, spielt auch der Hohlraum im Inneren eine wichtige Rolle. Mit den Augen ist dieser nicht erfassbar, aber leichtes Klopfen entlockt dem Gefäß einen dumpfen Klang und im 6. oder 7. Jahrhundert vielleicht – und hier wird es spannend – ein leises Schwappen. Die Ampullen dienten nämlich zur Aufbewahrung und zum Transport von „Eulogien“, also Substanzen wie geweihtem Öl oder Wasser. Auch hier wird wieder die Idee der übertragbaren Heiligkeit wichtig: nicht jede Person kann den Fingerknochen eines Märtyrers mit sich herumtragen, aber eine Handvoll Erde oder einige Tropfen Öl in einer Ampulle waren für fast alle zugänglich. Dieser Inhalt war also die dritte weihende Eigenschaft dieses kleinen, aber spirituell doch unglaublich wertvollen Objekts. Wasser ist als Füllung für die Menasflaschen allerdings eher unwahrscheinlich, da sie durch die schlechte lokale Tonqualität zu porös sind, um dieses lange zu halten.7

Das Öl für die Ampullen erhielt seine segnende Wirkung in Abu Mina an drei Orten: durch Nutzung in den Lampen in der unterirdischen Gruft, indem man es in den Absiden der darüberliegenden Gruftkirche über Reliquien goss oder in einem Alabasterbehälter, der in den Boden am Altar eingelassen war. In diesen Behälter füllte man das Öl, um es durch die Nähe zur darunterliegenden Krypta den erhofften Segen empfangen zu lassen. In den Resten des Alabasterbehälters hat man chemische Spuren von Weihrauch gefunden, die dem Öl zugesetzt wurden.8 Die Flüssigkeit hätte also aus dem Flascheninneren den aus Kirchen bekannten, würzigen Weihrauchgeruch verströmt und damit eventuell auch zu der geweihten Aura des Objekts beigetragen.

Die Flüssigkeit im Inneren konnte als Heilmittel verwendet werden,9 man rieb es möglicherweise auf betroffene Körperstellen oder trank es sogar. Durch das Aufbrauchen des Öls hätte sich also mit der Zeit das Gewicht des Objekts verändert. Wenn man es Jahre nach der Pilgerreise in den Händen hielt, vielleicht leise Gebete murmelte und dabei über das Gesicht des Heiligen strich, wäre es leichter gewesen. Doch wenn man es sich damals ganz nah unter die Nase hielt, verströmte es möglicherweise immer noch seinen feinen, würzigen Duft. Kurz war man dann wie zurückversetzt nach Abu Mina, in die Hitze der Wüste und die kühle, marmorverkleidete Gruft, gewärmt von Öllampen und den zahllosen Pilgern, die tagein, tagaus dort hinunterströmten. Das kleine, raue Fläschchen an die bebende Brust gedrückt, näherte man sich dem Sarg des Märtyrers. Betend schloss man die Augen, die glitzernden Mosaike und herabhängenden Votivfiguren10 verschwanden, aber immer noch spürte man die anderen Körper um sich herum, hörte ihre Gebete und Gesänge, roch Schweiß und Weihrauch und abgestandene Luft.

Die pilgernde Person hätte mit diesem Besuch den Höhepunkt der Reise erreicht, aber für die kleine Menasampulle in seinen oder ihren Händen fing sie damit erst an. Jetzt, mehr anderthalb Jahrtausende später, ist sie weit im Norden im Berliner Bode-Museum zu finden. Wer weiß, vielleicht wohnt ihr auch jetzt noch ein kleines Fünkchen Heiligkeit inne.

1Woodfin 2006, S. 114f.

2Brooks Hedstrom 2012, S. 9.

3Foskolou 2007, S. 13.

4Anderson 2007, S. 225. – Grossmann 1998, S. 299.

5Walter 2003, S. 185f.

6Foskolou 2007, S. 17.

7Grossmann 1998, S. 299. 

8Ebd., S. 285, 299.

9Ebd., S. 285.

10Ebd., S. 300, Kaufmann 1907, S. 31.

Abbildungen

Abb. 1: Urheber: Tabea Gerngreif-Bongertz

Abb. 2: © Byzantinische Sammlung / Bode-Museum, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz / Antje Voigt

Abb. 3: Peter Grossmann: Abu Mina, Online 2003, S. 2, https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054.article.T000278, heruntergeladen über Grove Art Online am 15.01.21.

Literatur

ANDERSON, William: „Menas Flasks in the West: Pilgrimage and Trade at the End of Antiquity“ in:Tsetskhladze, G. R. (Hrsg.): Ancient West & East, Vol. 6 (2007), S. 221-243.

BROOKS HEDSTROM, Darlene L.: „Abu Mina“ in: Bagnall, Roger S./ Brodersen, Kai/ u.A. (Hrsg.): The Encyclopedia of Ancient History, Oxford 2013, S. 9-10.

FOSKOLOU, Vicky: „Eine Reise zu den Wallfahrtsstätten des östlichen Mittelmeerraums: „Souvenirs“, Bräuche und Mentalität des Wallfahrtswesens“ in: Peregrinations: Journal of Medieval Art and Architecture, Vol. 2, Iss. 2 (2007), S. 1-33.

GROSSMANN, Peter: „The Pilgrimage Center of Abu Mina“ in: David Frankfurter (Hrsg.): Pilgrimage and Holy Space in Late Antique Egypt, Leiden/Boston 1998, S. 281-302.

KAUFMANN, Carl Maria: Zweiter Bericht über die Ausgrabung der Menasheiligtümer in der Mareotiswüste (Sommer-campagne Juni-November 1906), Kairo 1907.

WALTER, Christopher: „St. Menas of Egypt“ in: The Warrior Saints in Byzantine Art and Tradition, Abingdon 2003, S. 181-190.

WOODFIN, Warren T.: „An Officer and a Gentleman: Transformations in the Iconography of a Warrior Saint“ in: Dumbarton Oaks Papers, Vol. 60 (2006), S. 111-143.