Der Gießlöwe: Essenzieller Bestandteil der mittelalterlichen Handwaschung oder nostalgische Tischskulptur?

Harald Wolter-von dem Knesebeck definiert Aquamanilien als norddeutsche Kleinskulpturen aus dem 12. bis 16. Jahrhundert, die sowohl in der Liturgie als auch bei Begrüßungen und Gastmählern in höfischem Kontext zur Handwaschung verwendet wurden. Julien Chapuis datiert den Gießlöwen aus dem Bode Museum auf das Ende des 15. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit kommt es bereits zu einer starken Abnahme der Aquamanilienproduktion. Bei dem Objekt der Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin handelt sich also um ein spätes Modell. Der Großteil an Edelmetallaquamanilien ist aus Bronze gefertigt und hat eine Länge bzw. Höhe von 25 bis 35cm. Das zoomorphe Gefäß aus dem Bode Museum ist mit den Maßen 32,70 x 42,60 x 12,50cm vergleichsweise groß. Auch das Gewicht des bronzenen Gefäßes von 5 kg, in unbefülltem Zustand, erscheint sehr hoch um die Aquamanile für den gesamten Waschritus in den Händen zu halten. Die Größe und das Gewicht der Löwen-Aquamanile lassen darauf schließen, dass sie ortsfest, also als Tischaufsatz, verwendet wurde. Eine weitere Möglichkeit ist, dass mehrere Personen das Gefäß während des Gießens gehalten haben. Gegebenenfalls ist zu hinterfragen, ob die Aquamanile aufgrund ihrer Dimensionen überhaupt funktionstüchtig war oder ausschließlich als Tischskulptur während Mählern eingesetzt wurde.

Die stilisierte Form des Löwen ist in einem Relief ausgearbeitet und laut Julien Chapuis von der bronzenen Löwenstatue auf dem Braunschweiger Burgplatz inspiriert. Die Löwen-Aquamanile hat einen länglichen Schädel, welcher durch einen halb geöffneten Rachen, Maulwinkel-Falten sowie eine üppige Maul-Polsterung charakterisiert ist. Die Mähne wächst von den Schlappohren aus, den Hinterkopf, den Hals, die Schultern und die Brust in zulaufenden Zotteln herunter. Befüllt wurde das Gießgefäß über ein mit einer Klappe bedecktes Loch auf dem Kopf. Das Ausgussventil befindet sich im zähnefletschenden Maul des Gefäßes. Auf der Brust prangt ein fünfeckiges Wappen, welches mit einem flügelartigen Emblem geprägt ist. Die Verwendung von Wappen ist eine profanen Ausprägung, die sich im 15. und 16. Jahrhundert entwickelt und auf einen personellen, familiären Nutzungskontext hinweißt. Der Henkel der Aquamanile scheint nachträglich auf dem Rücken und Kopf des Gießlöwen angebracht, während der Rest aus einem Guss besteht. Die Beschaffenheit der Aquamanilien, vor allem im Zusammenhang des Griffes, beschäftigen Angelus A. Häußling sowie Harald Wolter-von dem Knesebeck. Laut ihnen definiert der Henkel die Tätigkeit des Gießens. Sie sprechen von dem Bezwingen des Starken durch die menschliche Hand. Die Tiere und Bestien, die die Gießgefäße verkörpern, werden zu symbolischen Dienern des Menschen. Mit den Worten „Der Löwe muss dem Menschen dienen und das Wasser der helfenden, zum Festmahl und zum Gottesdienst bereitenden Reinigung spenden.“ gibt Häußling den handlichen Gießlöwen einen nutzenden Charakter. Hierbei scheint auch die Formausprägung eine entscheidende Rolle zu spielen. Der Ursprung von Aquamanilien ist auf die islamische Kultur zurückzuführen. Das Motiv des Löwen spielt bereits bei den islamischen Gießgefäßen eine Rolle und taucht in nahezu allen europäischen Herstellungsregionen ohne begrenzten Zeitraum auf. Ein Drittel aller noch erhaltenen Aquamanilien sind Gießlöwen. Die Bezwingung des Löwen scheint hierbei sowohl eine transkulturelle als auch transregionale Bedeutung einzunehmen.

Bei der Benutzung von Aquamanilien handelt es sich, egal ob in einem religiösen oder höfischen Zusammenhang, um ein sinnliches Erlebnis. Die plastisch modellierten Elemente und Reliefs der Gefäße werden wohl alleine den Tastsinn der Handwerker, Händler und Zuständigen, die mit dem Gießen beauftragt wurden, geweckt haben. Die Liturgen oder Adligen, die das Ritual der Handwaschung vornehmen, kommen einzig mit dem vorgewärmten Wasser in Berührung. Hier ergibt sich ein Kontrast, der sozialen Klassen, zwischen dem Stämmen von dem, nach der Befüllung, recht schweren, metallischen Gefäß und dem angenehmen Gefühl des wohltemperierten Wassers auf der Haut. In manchen Fällen wurde dieser behagliche Prozess erweitert indem wohlriechende Essenzen dem Wasser beigemischt wurden. Diese intensivierten wohlmöglich den Waschprozess und verliehen einen langanhaltenden Geruch auf der Haut der Liturgen und Adligen. Neben dem Gefühl und dem Geruch des Wassers ist auch das Geräusch zu nennen, das durch das Fließen über die Hände, in die metallische Auffangschale entsteht. Während des sonst geräuschlosen Ritus, formen das Aufeinandertreffen von den Elementen Wasser und Metall einen atmosphärischen Klang.

Aquamanilien sind essenzielle Bestandteile der mittelalterlichen, rituellen Handwaschung in sakralen und profanen Räumen. Ihre Aufgabe kann nicht nur als wasserhaltendes Gefäß charakterisiert werden, sondern sie tragen visuell, taktil, olfaktorisch und akustisch zu der Zeremonie bei. Der Gießlöwe der Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin reiht sich formal in die stilanalytische Löwen-Aquamanilien-Forschung ein. Das Brustwappen identifiziert den Löwen als späte Aquamanile aus einem höfischen Nutzungskontext. Inwieweit der Gießlöwe eingesetzt werden konnte ist zu hinterfragen, da seine Größe und Gewicht die Verwendung erschweren. Viele ortsfeste Gießgefäße sind mit einem Wasserhahn versehen, ein Attribut, welches bei der Löwen-Aquamanile fehlt. Möglicherweise handelt es sich bei dem Objekt des Bode Museums um eine Tischskulptur, die visuell an die jahrhundertelange Tradition der Handwaschung bei Mählern erinnert, aber nicht mehr sensorisch zu dem Ritual beiträgt.

Literatur:
Barnet, Peter: „Medieval Aquamanilia.” in Heilbrunn Timeline of Art History, New York 2009, http://www.metmuseum.org/toah/hd/aqua/hd_aqua.htm (letzter Zugriff am 17.01.2021).


Chapuis, Julien: „Gießlöwe“ in SMB-digital: Online-Datenbank der Sammlungen, 2017, http://www.smb-digital.de/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=1623110&viewType=detailView (letzter Zugriff am 17.01.2021).


Häußling, Angelus A.: „Das Aquamanile: Ein Instrument des Glaubens und der Sitte“, in: Brandt, Michael (Hrsg.): Bild und Bestie : Hildesheimer Bronzen der Stauferzeit, Ausst.-Kat., Hildesheim, Dom-Museum Hildesheim, 31. Mai – 5. Oktober 2008, Regensburg 2008, S.209-216.


Müller, Ulrich: Zwischen Gebrauch und Bedeutung : Studien zur Funktion von Sachkultur am Beispiel mittelalterlichen Handwaschgeschirrs (5./6. bis 15./16. Jahrhundert), Bonn 2006.


Olchawa, Joanna: Aquamanilien: Genese, Verbreitung und Bedeutung in islamischen und christlichen Zeremonien, Regensburg 2019.


Wolter-von dem Knesebeck, Harald: „Zur Inszenierung und Bedeutung von Aquamanilien“, in: Brandt, Michael (Hrsg.): Bild und Bestie : Hildesheimer Bronzen der Stauferzeit, Ausst.-Kat., Hildesheim, Dom-Museum Hildesheim, 31. Mai – 5. Oktober 2008, Regensburg 2008, S.217-228.